Die Mutter aller Lost Places – 4 Tage in der Sperrzone von Tschernobyl
Ich kann nicht erklären, warum es so ist, aber ich bin der Faszination des Verfallenen und Maroden erlegen. Die meisten Ruinen wirken auf mich gleichzeitig furchteinflößend und wunderschön. Ich lausche den Geräuschen, die es entweder nicht gibt oder die so anders sind, als an anderen Orten: Das Klappern der zerstörten Fenster bei jedem Windhauch, das Knarzen der Balken. Ich bilde mir ein, die Farbe von den Wänden blättern zu hören. Warum sind diese Orte sich selbst überlassen worden? Wer hat hier gelebt oder gearbeitet? Ganz egal was passiert ist, die Natur ist der Gewinner und vereinnahmt sämtliche Hinterlassenschaften der Menschen. Eigentlich unvorstellbar, dass jemand davon nicht fasziniert ist. Meine Sicht auf diese Orte festzuhalten beschäftigt mich, seit ich die Fotografie für mich entdeckt habe. Wer mich kennt, der weiß, dass ich mich nicht auf ein Genre der Fotografie festlegen kann und will. Doch die Lost Places begleiten mich Jahr für Jahr, ob bei einer Tour mit Fotofreunden oder bei Modelshootings. Viele Jahre war es mein großer Traum, die Sperrzone von Tschernobyl fotografisch zu erkunden. Im Mai 2016 erfüllte ich mir nach langem Zögern von anderthalb Jahren diesen Wunsch. Mein Fotofreund Matthias Hellebrandt war bereits ein Jahr zuvor in Tschernobyl und ich bereute damals, dass ich ihn nicht begleitet hatte. Zum Glück wollte er noch einmal diese Abenteuerreise wagen! So war ich in meiner Aufregung nicht ganz allein. Vorweg möchte ich Lost & Found Explorers meinen Dank aussprechen. Ich habe mich während der gesamten Reise gut betreut und sehr sicher gefühlt und werde sicher wieder eine Fototour buchen. Unsere 14-Mann-Fotoexpedition startete in Berlin. Mit einem Kleinbus ging es mit eintägigem Aufenthalt in Kiew nach Tschernobyl. Anfangs erkundeten wir die 30-km-Zone rund um das Kraftwerk: Dörfer, Kolchosen, Schrottplätze, Fabriken. Diese Orte wirken auf den ersten Blick friedlich und verwunschen. Das fotografische Auge findet keine Ruhe, die „Motivklingel“ läutet unentwegt. Taucht der Blick jedoch tiefer in die Szenerie ein, wird einem das Grauen von damals bewusst: Im Postamt von Krasne hängt ein Kalender von 1986, Postkarten mit 1.-Mai-Motiven wurden verkauft. Auf dem Schrottplatz befindet sich ein Teil der Busse, mit denen damals 50.000 Menschen innerhalb von 2 Stunden evakuiert wurden. Prypjat, die verlassene Stadt, sieht aus wie ein Urwald. Ehemalige Prachtstraßen sind nur noch schmale Gassen. Die belaubten Zweige, nass vom Regen, streifen während der Fahrt ins Zentrum immerzu den Kleinbus, es fühlt sich an wie ein Trip in das Herz der Finsternis. Hier und da schauen die obersten Stockwerke der Wohnhäuser zwischen den Bäumen hervor. Unsere Tour führte uns zu zahlreichen Stationen in der Stadt, beispielsweise Hotel, Kulturhaus, Schule, Schwimmhalle, Krankenhaus, Stadion und Rummelplatz, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Insgesamt legten wir während des viertägigen Aufenthalts 500 km per Bus in der Sperrzone zurück. Dazu kamen die täglichen Fußmärsche von ca. 10 km, die nicht nur waagerecht erfolgten: Vom Dach eines 16-geschössigen Wohnhauses konnten wir uns einen Überblick von Prypjat über das Kraftwerk bis zur Radarstation verschaffen. Das alles zu sehen und zu fotografieren hat mich sehr bewegt. Kaum zu fassen war für mich jedoch der Anblick eines Kindergartens, den wir besuchten. Ich kannte vorher schon viele Bilder davon, die unfassbar traurig sind. Das alles jedoch selbst zu sehen war für mich nur schwer zu ertragen. Sicherlich hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt durch die vielen Eindrücke schon allerhand Emotionen angestaut, im Kindergarten war es jedenfalls vorbei mit der Selbstbeherrschung. Und ich war nicht die einzige Mitreisende, der es so ging. Meine Bilder schaue ich mir mit gemischten Gefühlen an. Einerseits bin ich froh, mir diesen Traum erfüllt zu haben, andererseits bin ich der Meinung, meine Bilder können nicht wiedergeben, wie es sich anfühlt, in der Sperrzone zu sein. Diese Katastrophe hat für eine nicht bestimmbare Anzahl von Menschen unsagbar viel Leid gebracht. Ich wünsche mir von Herzen, dass sich das nicht ein drittes Mal wiederholt.
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